Score-Wert: 30 (zentraler Kernwortschatz)
Geschichte
Die vier Bedürfnisdimensionen blicken in der Palliativmedizin auf eine lange Geschichte zurück und sind bereits um 2000 als fester „Bedürfniskatalog“ ausgebildet. Bedürfnisse sind in den
frühesten untersuchten Texten häufig konkreter physiologischer, sozialer oder spiritueller Art: Schlafbedürfnis, Redebedürfnis, Nähebedürfnis, Bedürfnis nach emotionaler
Unterstützung. In Texten seit ca. 2012 werden immer häufiger auch nicht-physiologische Bedürfnisse genannt: Informationsbedürfnis, Autonomiebedürfnis, Bedürfnis nach
Erfahrungsaustausch, Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.
Bedeutungsspektrum in der Palliativmedizin
Die in der S3-Leitlinie (S. 53-57) genannten Bedürfnisdimensionen sind sehr stark an der Lebensqualität der Patientinnen/Patienten orientiert. Als Aspekte der Bedürfnisorientierung
zielen sie auf eine konsequente Orientierung der Palliativmedizin an den Bedürfnissen von Patientinnen/Patienten und Angehörigen ab. Dennoch lassen sich auf Basis der Fachtextanalyse Bedürfnisse
ergänzen: So werden etwa auch das Autonomiebedürfnis, Kontrollbedürfnis und Informationsbedürfnis als wichtige Patientenbedürfnisse dargestellt. Diese eher auf das
Arzt-Patienten-Verhältnis bezogenen Bedürfnisse werden in anderen Zusammenhängen häufig thematisiert, haben jedoch keinen Eingang in die zentralen Bedürfnisdimensionen der Palliativmedizin
gefunden. Bedürfnisorientierung kann autonomieunterstützend wirken. Dennoch ist Bedürfnisbefriedigung nicht zwingend an aktives Handeln der Patientin/des Patienten geknüpft und damit nicht immer
Zeichen gelebter Autonomie: Bedürfnisse können entweder vom Behandlungsteam erfasst/ermittelt oder von Patientinnen/Patienten und Angehörigen geäußert werden.
Der Begriff Bedürfnis ist klar von Bedarf abzugrenzen. Bedürfnis ist ein interner, subjektiv-individueller Anspruch oder Wunsch einer Person oder Personengruppe. Es können in den Fachtexten (1)
allgemeine Bedürfnisse als Dispositionen (Nahrungsaufnahme, soziale Kontaktbedürfnisse, Abwesenheit von Schmerz, Sicherheitsbedürfnis) von (2) konkreten situationalen Bedürfnissen in Folge von
erlebten Mangelzuständen (Hunger, Durst, Nähebedürfnis, Informationsbedürfnis, Ruhebedürfnis) abgegrenzt werden. Bedarf bezeichnet einen situational bestehenden, nachvollziehbaren, nicht aus
eigener Kraft zu behebenden Mangel- oder Belastungszustand einer Patientin/eines Patienten und ist als zeitlich begrenzter Zustand mit der Semantik von (2) gleichzusetzen. Problematischerweise
werden Bedarf und Bedürfnis nicht immer trennscharf verwendet, es ergeben sich Überschneidungen (Angehörige haben ein Informationsbedürfnis). Gerade das Wort Bedarf geht häufig
mit der Nennung konkreter Ressourcen einher und bezieht sich in der Regel auf quantifizierbare Mengen (Versorgungsbedarf), während in sozialen und spirituellen Kontexten eher das Wort
Bedürfnis gebraucht wird (Angehörige x hat heute ein Nähebedürfnis).
Akteurinnen/Akteure, die bedürfen, sind in aller Regel Patientinnen/Patienten oder Angehörige. Die Bedürfnisse von Teammitgliedern werden in den Fachtexten nur äußerst selten thematisiert.
Kollokationen: befriedigen, Bedarf, seelsorgerisch, spirituell, individuell, psychosozial, religiös, Wunsch, Ermittlung, geistig-seelisch, erfassen, erfüllen, Orientierung, Migrationshintergrund, Geborgenheit, Wärme, Belastungen, emotional, persönlich.
Feststehender Begriff: Ja. Bedürfnis wird im Glossar der erweiterten S3-Leitlinie Palliativmedizin definiert. Die Leitlinie nennt die wichtigen Bedürfnisdimensionen physisch, psychisch, sozial und spirituell. Dies entspricht weitgehend der Verwendung in palliativmedizinischen Fachtexten.
aus: Joachim Peters, Maria Heckel, Christoph Ostgathe (2020): Schlüsselbegriffe in der Palliativversorgung. Online-Handbuch. abrufbar unter https://www.uker.de/pm-handbuch