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Geschichte
Der Umgang mit Suizidalität ist seit dem Beginn des Untersuchungszeitraums ein wichtiges Thema in der Palliativmedizin, wobei konzeptuell strikt von Belegen zu trennen ist, die sich auf
ärztlich assistierten Suizid beziehen. Ein gewisser Schwerpunkt ergibt sich im Vorfeld der Diskussion um § 217 „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“. In der Forschungsgeschichte
können keine Schwerpunktphasen identifiziert werden, in denen Suizid ein überproportional hohes Maß an Aufmerksamkeit erhält.
Bedeutungsspektrum in der Palliativmedizin
Betrachtet man die Verwendung des Begriffs, so lässt sich feststellen, dass Suizid im Vergleich zu einer alltagssprachlichen Verwendung vergleichsweise wenige negative Konnotationen trägt. In der
palliativmedizinischen Fachliteratur wird explizit auf jegliche moralische Wertung von Suizidalität verzichtet. Das Wahrnehmen eines Sterbewunsches und das Suchen nach einem respektvollen Umgang
mit diesem gehören gewissermaßen zu den „natürlichen“ Aufgaben der Palliativmedizin. Todeswünsche können in ihrer Qualität unterschiedlich ausgeprägt sein. Schwerkranke Menschen, die den Wunsch
zu sterben äußern, tun dies nicht zwingend unter unmittelbarem pragmatischem Handlungsdruck. Das zu erfassende Phänomen der Suizidalität lässt sich mit dem Wort Lebensverkürzung oder engl. „wish
to hasten death“ gut erfassen, ohne die Assoziation einer unmittelbar bevorstehenden Lebensbeendigung herzustellen. Obwohl in der S3-Leitlinie unter der Kategorie Todeswünsche subsumiert,
erscheint auf Basis der empirischen Analyse eine Trennung von Lebenssattheit, Lebensmüdigkeit und tatsächlichem (krankheitsbedingten) Suizidwunsch sinnvoll. Suizidalität ist nicht als isolierter
Wille einer Einzelperson aufzufassen, sondern immer auch im Kontext der Angehörigen zu sehen. Er stellt dann vor allem eine Kategorie dar, die mit emotionalen Befindlichkeiten der
Suizidhinterbliebenen verknüpft ist, etwa Trauer, Wut und Verzweiflung.
In der Fachliteratur erscheint Herausbildung von Suizidgedanken als Prozess, in dem sich Handlungsmotive im Laufe der Zeit verfestigen. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Es sind dies
Symptome wie Schmerzen, Atemnot, Angst, Depressionen, Angst vor dem Verlust körperlicher und kognitiver Fähigkeiten, aber auch Angst vor Vereinsamung, medizinischer Überversorgung oder einer
dauerhaften Abhängigkeit von Medizintechnik (z.B. künstliche Beatmung). Die Herausbildung von Suizidwünschen ist in den meisten Fällen sprachlich mit der Angst verknüpft, die die Möglichkeit des
eigenen selbstbestimmten Handelns zu verlieren – Suizidwünsche werden daher immer wieder als Willensäußerungen aufgefasst, erneut Kontrolle über die eigene Situation zu erlangen. Eine
strukturelle Verbindung des Suizids mit positiven Konzepten wie Freiheit und Selbstbestimmung, wie sie etwa in der Argumentation von Sterbehilfebefürworten hergestellt wird, wird in den Texten
jedoch konsequent vermieden.
Kollokationen: assistiert, medizinisch-assistiert, Beihilfe, begehen, Suizidankündigung, Hinterbliebene, Trauerarbeit, Belastung, gemeinsam, begleiten.
Feststehender Begriff: Nein. Die der Verwendung in den Texten zugrunde liegenden Bedeutungen von Suizid und verwandten Begriffen (ärztlich assistierter Suizid, Sterbehilfe, Selbsttötung, Tötung auf Verlangen) unterscheiden sich immer wieder schon hinsichtlich der definitorisch angenommenen Merkmale einer Suizidhandlung (z.B. aktive Tathandlung vs. Unterlassen). Die Auffassung, was als Suizid zu gelten habe, ist die semantische Basis für alle Konzepte, die sich auf den Begriff Suizid beziehen.
aus: Joachim Peters, Maria Heckel, Christoph Ostgathe (2020): Schlüsselbegriffe in der Palliativversorgung. Online-Handbuch. abrufbar unter https://www.uker.de/pm-handbuch